Tobias Rausch

Erzkisten, Shampooflaschen und intelligente Pilze

Original version in German

Zum Frühstücken hat er sich auf die Erzkiste gesetzt – auf die Kiste mit dem Uran, so wie es alle Kumpel unter Tage gemacht haben. Am nächsten Tag war der ganze Unterleib geschwollen und alles tat weh. Trotzdem fuhr er weiter in den Schacht ein. Dreißig Jahre später kam die Leukämie, dann der Lymphknotenkrebs und schließlich der Darmkrebs. Von 1947 – 1990 wurde im Erzgebirge Uran für das sowjetische Kernwaffenprogramm gefördert. Ohne Rücksicht auf die Bevölkerung und die Umwelt wurde gebohrt und gefördert. Innerhalb weniger Jahre wurden verschlafene Dörfer zu stau- bigen Mondlandschaften aus Abraumhalden, Schachtanlagen und Aufbereitungsfabriken. Jahrzehnte später haben sich die ehemaligen Abbaugebiete in Parklandschaften oder normale Gewerbegebiete verwandelt. Dass hier einstmals das weltgrößte Unternehmen für Uranbergbau förderte, ist fast unvorstellbar.

Was können wir uns vorstellen? Wir leben in einer Krise der Imagination. In der Inszenierung TAUSEND SONNEN (Premiere: 28.11.2022, Staatsschauspiel Dresden) brachten wir sechs ehemalige Bergleute und Anwohner des Uranbergbaus auf die Bühne und erforschten mit ihnen die Narrative, die ihr Leben und die Erinnerung an die Zeit unter Tage bestimmen. Im Probenprozess zeigte sich immer wieder, wie ungreifbar die unsichtbaren, geruchlosen und zunächst unmerklichen Folgen der Radioaktivität für die Beteiligten geblieben sind. Und auch heute scheint bei den meisten der Eindruck vorzuherrschen, dass mit dem Abbau der Fördertürme das Problem verschwunden sei. Zwar wusste und weiß man um die Gefahren, die unter der Erde und in den Körperzellen schlummern, aber sie schienen und scheinen immer nur die anderen zu betreffen. Stattdessen sind viele Lebenserzählungen vom Stolz auf die eigene Leistung bestimmt und davon, zu einer besonders privilegierten Bevölkerungsgruppe in der DDR gehört zu haben. Vielleicht steht der erzählerische Umgang mit Radioaktivität paradigmatisch für ein Problem, das wir heute in der Auseinandersetzung mit den ökologischen Krisen unseres Planeten haben.

Der indische Romancier Amitav Ghosh vertritt in seinem Essay „Die große Verblendung“ die These, dass die westlich geprägte Literatur zu einer Krise der Imagination beigetragen habe. Mit der Fokussierung auf menschliche Protagonisten zur Zeit der Aufklärung klammerte sie die Natur als Akteur von Geschichten aus und degradierte sie zur reinen Kulisse menschlicher Konflikte. Sie wurde zur Ressource, die man ausbeuten konnte, zur Erholungslandschaft oder zur „schönen Natur“, die der Erbauung diente. Darin liegt eine kolonialistische Geste, mit der die Welt jenseits der europäischen Metropolen (mit ihrer kulturellen Definitionsmacht und wirtschaftlich-militärischen Potenz) zum reinen Hinterland ohne eigene Geschichte reduziert wurde. Weil wir es aber verlernt haben, nicht-menschliche Akteure (wie radioaktiv strahlendes Erz oder ein Unwetter) als Protagonisten unserer Geschichten zu begreifen, fällt es uns heute auch so schwer, die Klimakrise, die Zerstörung von Lebensräumen oder das Artensterben auf eine Art und Weise zu erzählen, dass es uns affektiv ergreift.

In der Inszenierung TORNADO (Premiere: 12.09.2020, Theaterdiscounter Berlin) haben wir uns mit der Frage beschäftigt, warum wir es nicht schaffen, angemessene Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise zu ergreifen. In einer Szene, die auf dem Interview mit einer Klimawissenschaftlerin beruht, reflektiert die Figur ihre Erschütterung, wenn sie nach einer mehrmonatigen Expedition im sibirischen Polarmeer im Drogeriemarkt vor einem Regal mit Shampooflaschen steht. Auf dem Schiff hat sie die Klimakrise hautnah erlebt, wie gigantische Flächen, die früher eine Landschaft aus Packeis und glasklarem Himmel bildeten, heute aus einer trüben Suppe aus Eisklümpchen und grauem Nebel besteht. Dann kehrt sie zurück, der Alltag geht einfach weiter, mit unzähligen Shampoo-Marken im Supermarkt, die mit Pflegeölen aus Erdöl produziert sind, aromatisiert und duftend und in Plastikflaschen verpackt, und sie fühlt sich unfähig, die Drastik ihrer Erfahrung den Zuhausegebliebenen zu vermitteln. Ihre Forschungsergebnisse sind so komplex, oft nur mit mathematischen Modellen zu durchdringen und von Hochleistungsrechnern erstellt, dass sie in eine kommunikative Resignation verfällt: das kann sich niemand vorstellen. Sie beschreibt damit ein Grundproblem unseres modernen Naturzugangs, der uns auch in unserem fünfjährigen botanischen Langzeittheater DIE WELT OHNE UNS (2009 – 2014, Staatstheater Hannover) immer wieder begegnete. In dieser Produktion haben wir versucht, Pflanzen zu Protagonisten eines Theaterstücks zu machen. In insgesamt neun Folgen haben wir auf einem ehemaligen Kasernengelände einen Publikumscontainer mit Glasscheibe aufgestellt und einen Garten angelegt, der im Laufe der Jahre künstlich verwilderte. Die Idee des Projekts, Pflanzen als Individuen mit einer spezifischen Geschichte sehen zu lernen, die wir in unterschiedlichen performativen und theatralen Anordnungen erforschten, stolperte immer wieder über die Herausforderung, dass menschliche und pflanzliche Größen- und Zeitskalen weit auseinanderklaffen. Prozesse von Kommunikation, Verteidigung und Fortpflanzung geschehen über chemische, innerpflanzliche und unterirdische Wege, die unserer unmittelbaren Wahrnehmung verschlossen sind. So bleibt vermeintlich nur der Zugang über die wissenschaftliche Aufbereitung, die das einzelne Individuum zum Vertreter einer Art und Gattung macht, Zufall und Schicksal über statistische Quantifizierung herausmittelt und ihre Geschichte zur Episode eines Evolutionsprozesses reduziert. Oder wir fangen an zu anthropomorphsieren, der Pflanze eine menschliche Stimme zu verleihen und vom Gespräch der Bäume und der Intelligenz der Pilze zu raunen. Die Natur verwandelt sich zum Puppentheater, das durch unsere menschlichen Vorstellungen von Geschichten animiert wird. So aber können wir die Pflanze als Pflanze in ihrem Eigensinn gerade eben nicht wahrnehmen.

Wir sehen also, wie hoch die historisch gewachsenen Hürden sind, wie sehr unsere Wahrnehmung und unsere ästhetischen Sprachen durch die Marginalisierung von Natur geprägt sind. Die Krise der Imagination führt unmittelbar zur Frage, wie wir uns als Menschen selbst verstehen und unsere Stellung im Kosmos verorten.

Im zweiten Teil von TORNADO betritt das Publikum eine Halle, in der eine Installation aus Ventilatoren aufgebaut ist. Zu einer Collage aus Sound, Musik und Stimmenfragmenten setzen sich die Ventilatoren nach und nach in Bewegung, bilden mit der Rotation ihrer Propeller und der Pendelbewegung ihrer Köpfe im Raum flüchtige synchrone oder gegenläufige Muster, treten in Dialog miteinander, kämpfen gegen die Schwerkraft oder rempeln sich gegenseitig an. Die Luft im Raum wird durch die Ventilatoren aufgewirbelt und in Bewegung versetzt; sie bildet Kaskaden, Strömungsmuster und Turbulenzen. Irgendwann, zu einem unvorhersehbaren Augenblick, entwickelt sich mitten im Raum ein spiralförmiger Strudel, der sich allmählich verdichtet und immer höher aufbaut. Mehr und mehr Luftteile werden in die Rotationsbewegung mit hineingerissen, und dann, plötzlich, reckt sich ein schlauchförmiger Rüssel zur Decke der Halle empor. Vor dem Angesicht des Publikums hat sich ein etwa 4-5 Meter hoher echter, künstlicher Tornado gebildet. Er tanzt hin und her, kippt mal in die eine Richtung, dann in die andere Richtung. Sein Schlauch ist zeitweise breit und kräftig, dann wieder zerbrechlich und dünn, dann fällt er in sich zusammen und scheint verschwunden, um im nächsten Moment spukhaft wieder aufzutauchen.

In seinem Essay schreibt Amitav Ghosh von einem Wirbelsturm in seiner Heimatstadt Delhi, dem er „Auge in Auge“ gegenübersteht. Er meinte zu spüren, dass der Wirbelsturm ihn angeschaut habe. Als sei dieser ein Wesen, das ihn erkennt. Es sind also nicht wir, die wir die Natur subjektivieren müssen, um sie als Gegenüber zu erkennen. Es ist die Natur, die uns in den Blick nimmt, indem sie vor unseren Augen Gestalt gewinnt und uns gegenübertritt. Damit beschreibt Ghosh ziemlich präzise, was im Theater geschehen kann, wenn wir zulassen, dass nicht wir Menschen mehr die Protagonisten sind, die mit ihren Intentionen die Handlung bestimmen. Vielleicht sind dies nur momenthafte Erfahrungen, in denen hinter der Krise der Imagination doch ein Zipfel von Vorstellung aufflackert. Möglicherweise entsprechen diese nicht dem menschlichen Muster einer Geschichte, kennen keinen Unterschied zwischen Handlung und Hintergrund und folgen nicht dem linearen Modell von Zeit, das unseren eigenen narrativen Raum strukturiert. Sie sind fragil, temporär, sprunghaft, nicht-determinierbar und verweigern sich unserer Verfügbarkeit. Doch sie erzählen von der Möglichkeit des Theaters, Unvollstellbares erfahrbar zu machen und von dieser Erfahrung affektiv ergriffen zu werden, selbst wenn sie sich unseren tradierten Vorstellungen von Theater entzieht.

Fondation Louis Roederer © Glenn A Albrecht, Tornado

Tornado

Fondation Louis Roederer © Glenn A Albrecht, Welt ohne uns

Welt ohne uns